Li-Wen Kuo hängt einem starken Individualitätsbegriff an. Das Prinzip der Serialität ist ihrer Arbeit fremd. Selbst da, wo man Variationen zu entdecken glaubt, ist jedes Bild aus sich selbst gewachsen, besitzt sein eigenes Kraftzentrum, das es organisiert. Dennoch speisen sich alle Bilder aus derselben Lichtquelle, die fast immer als Glanz an die Oberfläche tritt. Wo sie es nicht tut, ahnt man ihre hintergründige Gegenwart, als suche sie eine Stelle, um aus dem Bild hervorzubrechen. Mit Illusion hat dieser Schein nichts zu tun. Was ist das Sichtbare, was ist das Unsichtbare? Looming nennt man im Englischen das schemenhafte Auftauchen eines Objekts. Weit entfernt oder durch Nebel gesehen. Schwer fassbar und von zweifelhafter Identität. Solche loomings ereignen sich in Kuos Bildern. Nicht immer sind das Verschwimmen der Kontur oder die Transparenz der Form für die Verunsicherung des Blicks verantwortlich. Es gibt etwas, das sich entzieht. Es liegt hinter der Fülle, die man sieht, verborgen. Die Strenge der einzelnen Komposition korrespondiert mit einer Freisetzung des Bildgehalts. In ihrer grundsätzlichen Offenheit etablieren die Bilder ein Verhältnis zum Betrachter, das seinen Grund in sich selbst hat. Was Kuo mit ihrer Arbeit anstrebt, ist die Unerschöpflichkeit dieses Verhältnisses.
Mit Malewitschs Schwarzem Quadrat hat "die Malerei" den Nullpunkt der Reduktion erreicht. Von ihm aus ist nur eine Bewegung ins Positive möglich. Dem Maler stellt sich seitdem die Frage, was er noch oder wieder schaffen kann. Neben der Wahrnehmung der reinen Form geht es Li-Wen Kuo um die Annäherung an einen Kern, der sich nicht anders als "geistig" bezeichnen lässt. Intuition und bewusste Lenkung arbeiten dabei als gleichwertige Werkzeuge. Kein Element entsteht bei diesem Vorgehen ohne Zusammenhang zum anderen Element. Kuos Haltung dabei ist, sich dem Werden des Bildes anzuvertrauen, es sehen zu lernen und schließlich methodisch weiterzuführen. Die innere Logik der Komposition überträgt dabei reine Formen in Atmosphärenträger. Darin liegt eine Parallele zur wortlosen, keineswegs aber stummen Musik.