Ausstellungen
2020 | Umformung, Evelyn Drewes Galerie Hamburg (upcoming) |
2019 | Water Event (Yoko Ono), Museum der Bildenden Künste Leipzig |
Gründung Chimera Collective |
Texte / Publikationen
Das Gefühl, etwas verpasst zu haben
Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, wird in unserem Jahrhundert zur treibenden Kraft unseres Alltags. Der Wille, dieses Empfinden zu vermeiden, treibt uns an, den vielfältigen Angeboten an Events, Ausstellungen, Kunstmessen, Konzerten usw. bestmöglich gerecht werden zu wollen. Während eines gemeinsamen Aufenthaltes in Athen, hat auch uns als Künstlerkollektiv der Drang begleitet, überall dabei sein zu wollen um ja nichts zu verpassen.
Der Wohlstand in Europa nimmt unaufhörlich zu. Steuern wir hier auf einen Sättigungspunkt zu? Ließe sich gar von Überfluss sprechen?
Zunehmend werden wir innerhalb unserer Freizeitgestaltung mit beinahe endlosen Möglichkeiten konfrontiert. Die Auswahl an Restaurants, Bars, Nachtklubs scheint unbegrenzt. Dabei kommt schnell das Gefühl auf, dass jede getroffene Entscheidung für eine der Möglichkeiten nur falsch sein kann: In den sozialen Medien sehen wir, was wir andernorts im selben Moment verpasst haben.
Auch die Kunstszene ist zunehmend immer „on the run“. Internationalen Kunstmessen, die Biennale Venedig, die Kasseler Documenta; Internationales „Kunsthopping“ scheint beinahe ein eigener Beruf geworden zu sein. Was bei dem Versuch, alle Kunstevents, zu besuchen, zwangsläufig auf der Strecke bleibt, ist der Genuss. Man will alles sehen, alles schaffen, alles geniessen - wir wollen das Gefühl, etwas verpasst zu haben, so weit wie möglich entkräften.
Eine radikale Zäsur dieses ständigen Strebens nach Mehr setzte urplötzlich der Satz „Bis auf weiteres geschlossen“, der seit März 2020 nicht nur an den Eingangstüren aller Kultureinrichtungen steht, sondern auch unser öffentliches Leben prägt. Die Welt steht seitdem still, der Kapitalismus scheint den Geist aufzugeben. Eine Rückkehr in den Status Quo ante wird nicht mehr möglich sein. Jetzt sind wir dazu verpflichtet zu Hause zu bleiben, denn die Prämisse lautet „flatten the curve“. Keine Kontakte, Ausgangsverbote - der Himmel und die Strassen sind leer. Weniger Konsum, weniger Autos, weniger CO2, weniger Menschenmassen.
Jon Fabian schreibt: "Selbst die Terroristen müssen eine Pause anlegen. Durch fehlenden Menschensammlungen sind all die schönen Ziele verschwunden.
Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, erhält nun eine andere Bedeutung. Wir haben keine Wahlmöglichkeiten mehr, zuhause war noch nie so sehr das Zentrum unseres Seins. Wir fragen uns: Wo steuert die Menschheit hin? Hat die Menschheit den Anschluss verpasst, führt die Isolation, das „Social Distancing“ zu einer bleibenden Distanz? Oder sollten wir vielmehr von „Physical Distancing“ sprechen, da wir auf anderer Ebene näher zusammenrücken? Birgt der Digitalismus eine neue Form des Humanismus?
Entschleunigung ist keine Katastrophe. Ganz im Gegenteil jetzt ist die Zeit, den Restart-Knopf eines automatisierten Denkmusters zu drücken. Nicht nur die Kunst wird sich verändern, alles wird sich verändern. Gewohntes hat nicht mehr die gleiche Bedeutung, man bewertet die Geschehen jetzt anders, kritischer, menschlicher. "Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die das Virus
erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Die Gesellschaft, wird im kommenden Herbst höflicher geworden sein. Wir werden erkennen, dass die Menschheit und die Menschlichkeit der viel gepriesenen künstlichen Intelligenz überlegen ist. Die meisten Deutschen – so ist anzunehmen – würden eine solche neue Welt, ohne lange zu überlegen, unterschreiben", so Zukunftsforscher Matthias Horx.
Das das wäre Zumindest unserer Wunsch. Solidarität, Mitgefühl, Empathie und das starke Bedürfnis um ständige, digitale Kommunikation sind die Antriebskraft in einer Gesellschaft, die den Überlebensmodus freigeschaltet hat. Allerdings gibt es, wie in jeder Geschichte, auch die Kehrseite. Weltweit zeigen sich negative Auswirkungen in der jeweiligen Sozialpolitik der Staaten.
Jedes Land kämpft plötzlich wieder für sich. Die türkische Regierung hat die Landesgrenze zu Griechenland drei Wochen nach der umstrittenen Öffnung wieder geschlossen; offiziell sei dies wegen der Coronavirus-Pandemie geschehen. Die EU wirft der Türkei vor, die Migrant*innen als Druckmittel zu missbrauchen. Trump versucht die deutsche Firma, die an der Entwicklung eines möglichen Impfstoffs arbeitet, zu bestechen und den Impfstoff nur für Amerika zu gewinnen. Über 42.000 geflüchtete Menschen sitzen zurzeit in Lagern in Moria auf der griechischen Insel Lesbos fest, humanitäre Hilfen sind ausgesetzt. Seit dem 1. März sei der internationale Status der Menschen dort nicht geklärt,. Defacto können die betroffenen Menschen seitdem keine Asylanträge mehr
stellen. Um das Ausbreiten des Virus in den Lagern zu verhindern, sei es zu spät, so die Meinung vieler Kritiker*innen, da es in den Lagern weder sichere Wasser- noch eine zuverlässige Medikamentenversorgung gebe. Seit einer Woche dürfen zudem keine Betreuer*innen und keine Rechtsanwält*innen mehr die Lager betreten.
Wissenschaftler*innen, die uns ständig vor Übervölkerung warnen, schöpfen wieder Hoffnung, das keine ethische Entscheidung getroffen werden muss bei der Dezimierung der Massen. Corona ist eine Gefahr für die Gesundheit und die Wirtschaft und besonders für die Demokratie. Auch Rechtsradikale fühlen sich gestärkt und schieben die Schuld für die Pandemie auf die Geflüchteten, die nach Europa gekommen sind. Grund - und Menschenrechte werden im Zuge neuer Infektionschutzgesetze ausgehebelt und missachtet. Handy-Bewegungs-Profile werden zur Eindämmung der Epidemie benutzt. Die chinesische Regierung hat eine App veröffentlicht, die mit Hilfe von Überwachungsdaten Bürger*innen warnen soll, wenn sie Kontakt mit Corona-Infizierten hatten. Auch hierzulande gibt es erste Versuche solcher Überwachungsapps, bisher aber nicht
verpflichtend.
Wenn wir aus der Zeit der Isolation erwachen, werden wir uns alle fragen, was wir verpasst haben. Auf persönlicher, aber auch auf sozialer Ebene. Was ist hinter geschlossenen Türen passiert? Können wir uns an einer veränderten Gesellschaft anpassen? Oder lehrt uns diese Krise , Entschleunigung wahrzunehmen, tief durchzuatmen und uns einen Moment Zeit zu nehmen, um zu überlegen was wirklich wertvoll ist? Haben wir in dieser Zeit etwas verpasst oder haben wir etwas wirklich verpasst?